Clint Eastwood: Der ewige Cowboy und die amerikanischen Mythen (2024)

Er hat den Wilden Westen zelebriert und doch immer wieder an der Oberfläche der modernen Gesellschaft gekratzt. Als Schauspieler und Regisseur stellt er die amerikanischen Mythen, die er feiert, stets aufs Neue infrage. Jetzt wird Clint Eastwood neunzig.

Wolfgang M. Schmitt

Clint Eastwood: Der ewige Cowboy und die amerikanischen Mythen (1)

Lange schon steigt Clint Eastwood nicht mehr aufs Pferd, doch der Cowboy, als der er seine Karriere vor mehr als sechzig Jahren begann, ist er noch immer. Er glaube an «law and order», lässt er auch den Helden in «Der Fall Richard Jewell» sagen, seinem jüngsten Film. Diesmal spielt Eastwood, der am Sonntag 90-jährig wird, nicht selbst mit. Stattdessen steht im Mittelpunkt ein einfacher Mann, dessen Leib aus Fast Food, dessen Weltbild aus Eastwood-Filmen geformt zu sein scheint.

Richard Jewell, den es wirklich gab, entdeckt bei den Olympischen Spielen 1996 im Centennial Olympic Park in Atlanta eine Bombe in einem abgestellten Rucksack. Die Nagelbombe explodiert, doch dank Jewells schnellen Evakuierungsmassnahmen können schlimmere Verletzungen verhindert werden. Jewell wird von den Medien zunächst zum Helden erklärt, um bald darauf als vermeintlicher Täter gejagt zu werden.

Wahre Helden

Männer, die über sich hinauswachsen, treiben Eastwood um. Wenn die Wirklichkeit solche Heldenepen schreibt, umso besser: «Sully» (2016) erzählt die wahre Geschichte eines Piloten, der eine defekte Passagiermaschine auf dem Hudson River landete; in «15:17 to Paris» (2018) spielen die drei Amerikaner, die 2015 im Thalys-Zug einen Attentäter stoppten, sich gleich selbst. Gesetze sind schön und gut, erklären uns die meisten Eastwood-Filme, doch mitunter braucht es Helden, die für sie einstehen.

Doch manchmal müssen Gesetze um der Gerechtigkeit willen übertreten werden. Von dieser bedenklichen Haltung zeugt unter anderem die fünfteilige «Dirty Harry»-Reihe, in der der Polizist Harry Callahan als Grossstadt-Cowboy Selbstjustiz verübt, um das, was er unter Ordnung versteht, wiederherzustellen. Eastwood spielt einen Vigilanten, der nicht gegen den Staat, sondern gegen zu viel Liberalismus und Libertinage kämpft, während in Frankreich ein Jean-Paul Belmondo fast zeitgleich in «Peur sur la ville» (1975) als Polizist auch über seine Befugnisse hinausgeht, allerdings um das Erbe von 1968 zu retten und einen erzreaktionären Killer aufzuhalten.

Ja, Eastwood ist ein sehr amerikanischer Held, wenngleich ein gebrochener, zweifelnder, zaudernder. Den Wilden Westen gibt es nicht mehr, der Frontier-These des Historikers Frederick Jackson Turner aber, wonach die Einmaligkeit der USA in dem Spannungsverhältnis zwischen Zivilisation und der gleich angrenzenden Wildnis liegt, hat Eastwood die Treue gehalten.

Dass die Eroberung Amerikas nicht so anständig und edel verlief, wie seine Vorbilder John Ford oder Howard Hawks das Publikum der 1940er- und 1950er-Jahre-Western glauben machen wollten, lernt Eastwood gleich 1964 bei seinem Durchbruch als wortkarger Namenloser in Sergio Leones «Per un pugno di dollari». Die Ehre des Cowboys ist hier käuflich und «Zivilisation» nur ein vornehmeres Wort für Business. Eastwood wird das Gesicht, nein, vielmehr das Konterfei des Italowestern. Der mimische Minimalismus passt perfekt zu Leones Fatalismus. Der Film entpuppt sich als Überraschungserfolg. Ein Jahr später folgt «Per qualche dollaro in più» und 1966 mit «The Good, the Bad and the Ugly» der Höhepunkt der Dollar-Trilogie.

Eastwood ist nun ein Weltstar, immer wieder wird er zum Western zurückkehren. So 1992 in seinem stockfinsteren Spätestwestern «Unforgiven», der die amerikanischen Heldenmythen nicht einfach dekonstruiert, sondern von einem sintflutartigen Regen wegspülen lässt.

Wer von Zivilisation spricht, darf über die Gewalt nicht schweigen. Kratzt man ein wenig an der glatten Oberfläche der modernen Gesellschaft, kommt der Wilde Westen wieder zum Vorschein – wie auch in «Gran Torino» (2008), in dem Eastwood die höchst ambivalente Figur Walt Kowalski spielt, die zwar rassistisch ist und dennoch für universelle Werte einsteht, wenn es darum geht, die Hmong-Familie von nebenan aus den Fängen eines kriminellen Clans zu befreien. Walt ist eine geläuterte Dirty-Harry-Version, dessen Selbstjustiz sich schliesslich in Selbsthingabe verwandelt.

Aussenseiter und Helden wider Willen sind Eastwoods präferierte Figuren. Zerrt man diese ins Licht der Öffentlichkeit, leiden sie – dem scheuen Star nicht unähnlich – furchtbar. In «Flags of Our Fathers» (2006) zerbrechen die Soldaten, die zufällig durch ein Foto, das sie beim Hissen der US-Flagge auf Iwo Jima zeigt, Berühmtheit erlangten, am medialen Rummel. Der Film ist zwar auch ein Massenmedium, doch er lässt mehr Widersprüche und Perspektiven zu.

Gleich nach «Flags of Our Fathers» nahm Eastwood 2006 in «Letters from Iwo Jima» den japanischen Blickwinkel auf die Dinge ein. So reflektiert war er als Regisseur nicht immer. Während der Reagan-Ära drehte Eastwood peinliches Patriotenkino. In «Heartbreak Ridge» (1986) drillt er als Gunnery Sergeant mit allen denkbaren Schikanen und Sexismen junge Marines, um aus ihnen Soldaten vom alten Schlage zu machen. Es ist der plumpe Gegenfilm zu dem ein Jahr später erschienenen «Full Metal Jacket» von Stanley Kubrick.

Eastwood ist durch sein reduziertes Schauspiel auch ein grosser Ermöglicher. 1970 beschränkt er sich in Don Siegels komödiantischem Western «Two Mules for Sister Sara» darauf, einen mürrischen Söldner zu geben, der Shirley MacLaine als Saloon-Hetäre im Nonnengewand die Bühne überlässt, damit sie ihn und die Zuschauer verführen kann. Mehr als drei Jahrzehnte später stellt Eastwood sich in «Million Dollar Baby» in den Dienst von Hilary Swank, die für ihre Rolle als Profiboxerin mit einem Oscar ausgezeichnet wird.

Auch hier überschreitet Eastwood einmal mehr das Gesetz, indem er der schwerkranken Boxerin beim Sterben hilft. Man hat Clint Eastwood viele Male töten sehen, nun aber leistet er Sterbehilfe. Doch die Kinogeschichte lässt sich selbst in einer derart sensiblen Szene nicht gänzlich abstreifen; es entsteht so eine Überdeterminierung, die nicht mehr zu dechiffrieren ist.

Überraschende Bilder

Einen Star sehen wir nie ohne die Bilder, die wir von ihm gesammelt haben. Daraus schlägt Eastwood Kapital, wenn er – wie in «The Bridges of Madison County» (1995) – Zuschauererwartungen unterläuft. Wer hätte gedacht, dass diese schmalen Lippen, die bei Sergio Leone noch die Zigarillo hin- und herrollen liessen, Meryl Streep so zärtlich küssen können?

Eine eigene Handschrift hat der Filmemacher Eastwood, der 1967 seine bis heute unabhängige Produktionsfirma Malpaso gründete, zwar nicht. Dafür aber einen gut gefüllten Handwerkskasten. Wenn Walt in «Gran Torino» dem Nachbarsjungen stolz seine üppige Garagenwerkstatt präsentiert und erzählt, dass es Jahrzehnte gedauert habe, sich all diese Werkzeuge zusammenzukaufen, spricht hier auch der Regisseur über seine Arbeit.

Exzentrik und Genialität sind dem Pragmatiker fremd. Häufig genügen ihm 35 Drehtage für einen Film, gern nimmt er das erste Take. Bei seinem Team hinter der Kamera setzt er auf Kontinuität. Die Schauspieler haben diszipliniert zu sein, dafür gibt es oft früh Feierabend. Fast jedes Jahr entsteht so ein Film, der handwerklich in der Regel tadellos ist. Und hin und wieder gelingt ein Klassiker – ein bisschen wie damals bei Ford, als Amerika noch nicht deindustrialisiert war.

Clint Eastwood: Der ewige Cowboy und die amerikanischen Mythen (2)

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